“Tanzen heißt, einen Mythos zu erleiden, ihn also durch die Wirklichkeit zu ersetzen.”
Antonin Artaud
Bei der Besichtigung der Galerie Lindenhof fiel uns gleich die ungewöhnliche Ausstellungsarchitektur auf. Neun quadratische Holzpaneele, das Überbleibsel einer lang vergangenen Landesausstellung, dominieren die Wände des ehemaligen Kreuzganges. Obwohl Florian und ich schon seit einiger Zeit an einer Serie von “halbstarken Gemälden” arbeiteten, entschieden wir uns dafür, eine Ausstellung mit völlig neuen Arbeiten speziell für den Raum zu entwickeln.
Die Neun steht in vielen Kulturen für Vollendung und Vollkommenheit, da sie dreimal die göttliche Zahl Drei enthält. Man denke etwa an die neun ägyptischen Schöpfergottheiten oder die neun Engelschöre christlicher Mystik. Es sind aber nicht nur himmlische Sphären, welche diesem Ordnungsprinzip unterliegen. Wie wir aus Dantes Inferno wissen, gliedert sich auch das Reich der Toten in neun Höllenkreise. Genauso starb Jesus in der neunten Stunde. Da sich Florian und ich schon im Zuge unserer ersten gemeinsamen Ausstellung “Der Zombie und sein Schüler” mit dem Tod und dem Leben danach beschäftigt hatten, war es naheliegend, uns auch diesmal mit der Vergänglichkeit alles Irdischen und den damit verbundenen Jenseitsvorstellungen auseinander zu setzen.
Als Ausgangspunkt diente uns dabei das Motiv des Totentanzes, welches unter dem Eindruck des von der Pest verursachten Massensterbens im spätmittelalterlichen Europa entstanden war. Eine zeitgenössische Entsprechung dessen fanden wir in einem YouTube-Video aus dem Jahre 2007, das einen Bundesheerrekruten im ABC-Schutzanzug beim Tanzen zu Technomusik zeigt. Das Video ist der Krocha-Subkultur zuzuordnen, einer speziell österreichischen Ausprägung der Techno-Jugendkultur, für die eine irgendwo zwischen Freetek und Großraumdisco angesiedelte Ästhetik und ein der Wiener Umgangssprache verwandter Szenejargon (fix, bam, braQ) charakteristisch waren. Schranz bezeichnete in diesem Zusammenhang einen unter Krochern beliebten Musikstil (harter, minimalistischer Techno mit 140 bis 160 BPM) und schranzen die dazugehörige Art zu tanzen, wobei der Begriff selbst aus der Zusammenziehung der Worte Schrei und Tanz bzw. schreien und tanzen entstanden zu sein scheint.
Als nächstes kaufte ich in Groß-Siegharts ein gebrauchtes Metronom, zufälligerweise von zwei jungen Technos und stellte es in den Ausstellungsraum. 153 Schläge pro Minute gaben uns von da an den Arbeitsrhythmus vor und so malten Florian und ich vor Ort neun großformatige Gemälde, je eines pro Tag. Sechs davon hatte ich entworfen, zwei Florian und eines wir beide gemeinsam. Die Titel dieser ca. 160 x 160 cm großen Ölbilder lauten wie folgt: 1. Totentanz, 2. Biss, 3. Evolution, 4. Erleuchtung, 5. Séance, 6. Anusbild, 7. Ringelreihe, 8. Jesus im Talmud und 9. Kalachakra.
Johann Neumeister, 9.8.2020